Image
16. Juni 2020
 / 

Dezernat Zukunft

 / 
 / 
Archiv

14 Ideen für die Zeit nach Corona: Teil 1

9 min Lesezeit
[wp_dark_mode_switch style="3"]

DEZERNAT ZUKUNFT

Im März dieses Jahres hat das Dezernat Zukunft ein Forum ins Leben gerufen, um über langfristige, strategische Herausforderungen und Möglichkeiten im Kontext der Coronakrise nachzudenken. Von April bis Juni 2020 haben in diesem Rahmen etwa 30 Expert:innen[1] aus Wissenschaft und Politik über Herausforderungen und mögliche Lösungsansätze für die Zeit nach COVID-19 nachgedacht.

Die Ergebnisse dieser Diskussionen wurden damals auf Englisch veröffentlicht: 14 Ideas for After Corona. In den kommenden Wochen veröffentlichen wir nun eine Übersetzung ins Deutsche. Maßgeblich beteiligt an dieser Übersetzung waren Hannes Böhm, Florian Schuster und Anselm Dannecker, bei denen wir uns herzlich bedanken.

Die Vorschläge, die in den nächsten Wochen hier erscheinen werden, sind in gemeinschaftlicher Arbeit entstanden. Alle Unterzeichnenden unterstützen die Summe und Stoßrichtung der Vorschläge, nicht notwendigerweise jeden einzelnen Vorschlag. Die Sammlung soll Diskussion anregen und wir hoffen, dass es als eine solche Anregung gelesen wird.

Im Rest dieses Beitrags findet sich die Übersetzung der Präambel sowie unserer Reflektion über den Unterschied zwischen Gleichbehandlung und Fairness. Teil II wird die Vorschläge zur Demokratisierung des Zentralbankwesens präsentieren, Teil III die zur staatlicher Handlungsfähigkeit, und Teil IV die, die auf die Steigerung gesellschaftlicher Widerstandsfähigkeit abzielen.


14 Ideen für die Zeit nach Corona. Teil I: Präambel und Vorwort

Präambel

COVID-19 ist und bleibt ein Schock, der Menschen auf der ganzen Welt aus ihrem Alltag entrissen hat. Doch auch dieser Schock wird vorübergehen. Nach der Coronakrise werden Gesellschaften sich wieder öffnen, ein neuer Alltag wird entstehen. Diese Sammlung präsentiert 14 Vorschläge für diese Zeit: die Zeit nach Corona.

Ausgangspunkt dieser Vorschläge ist die Tatsache, dass die Coronakrise eine Krise der mangelhaften Vorbereitung war und ist. Expert:innen warnten seit geraumer Zeit vor dem Risiko einer globalen Pandemie. Zeit und Ideen gab es genug, um darauf zu reagieren. Und dennoch: als die Krankheit kam, stellten sich unsere wettbewerbsorientierten, globalisierten und angeblich flexiblen Marktgesellschaften als zerbrechlich und unter-vorbereitet heraus.

Vor diesem Hintergrund wäre ein „Zurück zum Davor“ unverantwortlich. Bereits heute spüren wir die Auswirkungen des Klimawandels, bereits seit Jahren erodieren wachsende Ungerechtigkeiten die Grundpfeiler unserer politischen Ordnung: Vertrauen und Legitimität. Wenn wir widerstandsfähig werden wollen, müssen auf Corona grundlegendere Veränderungen folgen.

Das Ziel dieses Projekts war es, dieser Veränderungsnotwendigkeit konkrete Formen zu geben. Dahingehend haben wir Vorschläge entwickelt und diskutiert, die über die — äußerst wichtigen — Maßnahmen zur akuten Krisenbekämpfung hinaus gehen, die die Brüche und Zerbrechlichkeiten unserer Gesellschaften angehen, und die gleichzeitig ausreichend konkret sind, um eine konstruktive Debatte zu diesen Fragen zu ermöglichen.

Die hier gesammelten Vorschläge konzentrieren sich auf die Fiskal- und Geldpolitik. Uns ist bewusst, dass dies nur ein Teil einer größeren, globalen Reformdiskussion und -agenda sein kann, aber aufgrund der Expertise der Projektteilnehmenden sowie der inhaltlichen Ausrichtung des Dezernat Zukunft sahen wir dies als die Bereiche, in denen wir die größten Beiträge leisten konnten.

Drei Stoßrichtungen strukturieren unsere Ideen. Die Sammlung beginnt mit Vorschlägen dazu, wie Zentralbanken demokratisiert werden könnten. Denn Corona hat eine zentrale Lehre der Krise von 2008 bestätigt: Zentralbanken sind zu den Schaltwerken und Steuerzentralen unserer Ökonomien geworden. Sie können staatliche Finanzen — und damit die staatliche Handlungsfähigkeit — gegen volatile Finanzmarktteilnehmer schützen (oder dies unterlassen), sowie die Finanzbranche — und damit auch das Produktionsgewerbe — vor den Konsequenzen ihres eigenen Handelns retten (oder dies unterlassen). Mit ihrem breiten Instrumentarium und ihren unbegrenzten finanziellen Ressourcen haben sie sowohl in Krisenzeiten als auch in ruhigeren Zeiten massiven Einfluss. Dass Notenbanken schnell und umfassend reagieren können, ist für ökonomische Widerstandsfähigkeit unabdingbar. In demokratischen Gesellschaften muss solche Macht jedoch regelmäßig Rechenschaft ablegen, sowie überprüf- und änderbar sein. Um die langfristige Legitimität und das Vertrauen in Zentralbanken zu sichern, skizzieren wir also hier, wie eine stärkere demokratische Kontrolle und Transparenz geschaffen werden könnte, bei Beibehaltung operativer Unabhängigkeit.

Der zweite Satz an Vorschlägen zielt auf die Stärkung staatlicher Handlungsfähigkeit ab. Corona hat uns gezeigt, dass die Beschaffenheit staatlicher Verwaltungsapparate dafür entscheidend ist, insbesondere was Statistik- und Finanzbehörden angeht. Konkret: was Staaten weder sehen noch zählen können, das können sie nicht gezielt lenken, verwalten, retten oder regeln, und zwar weder in Krisenzeiten noch in normaleren Zeiten. Diese Gruppe an Vorschlägen enthält also Ideen, wie der Staatsapparat modernisiert und gestärkt werden könnte, um sowohl ein schnelles, effektives und faires Reagieren auf zukünftige Krisen zu ermöglichen, als auch ein effektives Umsetzen demokratischer Mehrheitsentscheidungen in normalen Zeiten.

Der dritte und letzte Satz an Vorschlägen versammelt Ideen, wie unsere gesellschaftliche Widerstandsfähigkeit gesteigert werden könnte. Nicht alle zukünftigen Krisen werden verhindert werden können. Zusätzlich zu krisenabwendenden Reformen — die richtig und wichtig bleiben — ist es daher klug, die Fähigkeiten unserer Gesellschaften zu steigern, schnell wieder in die Spur zurückzufinden, beziehungsweise Krisen zu absorbieren, ohne davon aus der Bahn geworfen zu werden. Dazu gehören das Absenken von (Über)Hebelung („leverage“) im Finanzsektor und anderswo; der Abbau von Import- und Marktabhängigkeiten bei strategischen Waren und Dienstleistungen; die Steigerung von Löhnen und Vermögen in der Mitte der Gesellschaft und im Prekariat, um den Aufbau von Sicherheitsreserven zu ermöglichen; sowie der Aufbau einer Wirtschaftsordnung, die das Vertrauen untereinander, in Firmen und in den Staat stärkt, nicht schwächt.

Durch alle drei Vorschlagsgruppen zieht sich ein einzelner roter Faden: unser Wunsch, knapp, aber konkret eine makrofinanzielle Wirtschaftsordnung zu skizzieren, in der die richtungsweisenden Entscheidungen nicht mehr von technokratisch-privaten Akteuren getroffen werden, sondern von öffentlichen, demokratisch-legitimierten Akteuren. Das institutionelle Herz dieser Vision ist fiskal-monetären Zusammenarbeit. Ihre Leitbilder sind Widerstandsfähigkeit, nicht reine Effizienz; Nachhaltigkeit, nicht kurzfristige Maximierung; und eine Ausweitung und Vertiefung von Demokratie, ohne dafür Wohlstand zu opfern.

Natürlich können die hier entwickelten Vorschläge nur ein Anfang sein. Damit wir der Zeit nach Corona mit Zuversicht entgegenblicken können, muss uns eine größere Aufgabe gelingen: die Neuorientierung und Integration unseres Denkens und Handelns vis-à-vis Natur und Gesellschaft, Ökonomie und Politik, Statistik und Verwaltung, Gerechtigkeit und Vertrauen. Diese Sammlung, so hoffen wir, leistet einen ersten Beitrag dazu.


Vorwort: Neutrale Maßnahmen sind keine fairen Maßnahmen

Die Ideen dieser Sammlung zielen auf eine Neuausrichtung makrofinanzieller Politiken in Richtung Resilienz, Nachhaltigkeit und Demokratie. Aber wie jüngste Ereignisse, vor allem in den USA, uns wieder in Erinnerung rufen: Ohne Gerechtigkeit gibt es keinen (sozialen) Frieden. Nur eine als gerecht verstandene Gesellschaft wird langfristig widerstandsfähig, demokratisch, und damit nachhaltig sein.

Bevor wir also einzelne Vorschläge und Ideen präsentieren, möchten wir betonen, dass neutrale Maßnahmen und Reformen nicht dasselbe sind wie faire und gerechte Maßnahmen und Reformen. Im Gegenteil: wo der Status Quo voller Ungerechtigkeiten und Missstände ist, müssen Politikmaßnahmen diese explizit adressieren, um fair zu sein. Daher ist es wichtig zu betonen, dass die Pandemie eine Reihe gesellschaftspolitischer Risse hervorgehoben und vertieft hat; diese müssen in den strukturellen Veränderungen nach Corona angegangen werden.

  1. Die Vermögensungleichheit hat sich global in Folge der Corona-Pandemie ausgeweitet. Prognosen des Brookings Instituts zufolge könnte die asymmetrische Wirkung dieser Rezession etwa zehn Jahre des Fortschritts zunichte machen. Während zwischen März und Mai 30 Mio. US Amerikaner:innen sich arbeitslos meldeten, verzeichnete der Aktienindex S&P500 23 % an Kursgewinn. Schon zwischen den Jahren 1990 und 2020 steigerte sich das Vermögen von US Milliardären um 1130%. Aufgrund mangelhafter Daten — ein Politikum in sich selbst — ist die Lage in Europa schwerer einzuschätzen. In Deutschland sind die Vermögen der Ultra-Reichen, sprich Dollar-Milliardäre, zwischen März 2019 und Juli 2020 um circa 20% gestiegen, insbesondere wegen Kursgewinnen im Gesundheits- und Technologiesektor.
  2. Schwarze Menschen/People of Colour sind in den USA von COVID-19 ungleich schwerer betroffen. Intersektionale und strukturelle Ungleichheiten, die auch schon vor der Pandemie existierten, befördern Infektions- und Sterberaten bei ethnischen Minderheiten. Für Europa existiert hierzu nach unserem Kenntnisstand keine Datenreihe — auch hier gilt: Statistikproduktion spiegelt Politik —, Minderheiten scheinen jedoch auch hier unverhältnismäßig stärker betroffen zu sein.
  3. Die Pandemie verschärft Genderungleichheit. Frauen übernehmen während Lockdowns unverhältnismäßig mehr Arbeit zu Hause als Männer. Dabei treten traditionelle Rollen- und Familienbilder hervor, in denen Frauen zusätzliche Care-Arbeit leisten müssen. Darüber hinaus greift häusliche Gewalt global um sich. Drei Monate Lockdown erhöhen nach Schätzungen des UN Population Funds Gewalt um 20% in allen 193 UN Staaten.
  4. Kinder und Jugendliche sind von COVID-19 überdurchschnittlich schwer betroffen. So sind Kinder von direkter häuslicher Gewalt verstärkt Darüber hinaus waren und erleben Kinder und Jugendliche massive Einschnitte in ihren Bildungsalltag. UNICEF warnt, dass unterschiedlicher Zugang zu Technologie Bildungsungleichheit für am stärksten benachteiligte Gruppen verschärft. Die „Corona-Abschlussklasse 2020“ erwartet massive Einschnitte in Lebenseinkommen und gesicherten Lohnverhältnisse.
  5. Wohn- und Aufenthaltsorte, Reise- und Migrationsbewegungen sowie klimatische Faktoren beeinflussen die individuelle Corona-Verwundbarkeit. Kurz, die Pandemie macht Geographie zu einer zentralen Entscheidungskomponente für Individuen und Staaten. Menschen in besonders betroffenen Regionen können sich auf Grund von Reisebeschränkungen nicht fortbewegen, während der Zugang zu Reisemöglichkeiten heterogener wird. Darüber hinaus verlängern sich Bearbeitungszeiten für Migrant:innen und die humanitäre Lage in Lagern verschlechtert sich.

Diese Beispiele geben nur ein erstes, ungefähres Bild der heterogenen Effekte der Pandemie. Viele der genannten Risikofaktoren überschneiden und amplifizieren sich: Frauen ethnischer Minderheiten oder minderjährige Flüchtende sind weit überdurchschnittlich von der Pandemie betroffen. Was diese Beispiele deutlich machen, ist dass Politikmaßnahmen nicht blind für strukturelle Ungleichheiten sein dürfen. Nur wenn die langfristigen Antworten auf diese Krise klassen-, ethnizitäts-, gender-, alters- und Orts-Aspekte mit einbeziehen, können sie als fair und gerecht wahrgenommen werden. Wie schon vor Corona gilt: neutrale, strukturblinde Maßnahmen sind seltenst faire oder gerechte Maßnahmen.


[1]  Die Expert:innen waren:


Hat dir der Artikel gefallen?

Show some love mit einer Spende
oder folge uns auf Twitter

Teile unsere Inhalte

Ähnliche Artikel aus unserem Archiv